Ein Tag am Strand

Gegenwärtige Formalismen und der verlorene Bezug zur Welt

Textbeitrag: Dr. Alexander Leinemann

Ink and Dead Organisms on Paper, Asef–Burckhardt: SHELTER–BONE © 2023

Die kleinformatigen Zeichenblätter von Kirstin Burckhardt (Durban, Südafrika) und Mario Asef (Córdoba, Argentinien) thematisieren all das, was außerhalb tagtäglicher Berichterstattungen geschieht. Die Materialbilder offenbaren die Limitierungen und Grenzen menschlicher Einflussnahme, wenn es darum geht, einen Zugang zur Welt herzustellen. Entstanden aus einfachen Gegenständen, die das Paar an einem Küstenabschnitt der Sea Ranch in Kalifornien gefunden hat, verdeutlichen die daraus resultierenden Farbsetzungen, dass jeder Eingriff des Menschen Spuren hinterlässt, die in ihrer Erscheinung nicht vollständig absehbar sind. Asef-Burckhardt haben ein Bildwerk geschaffen, das in vielerlei Hinsicht neue Denkansätze ermöglichen kann. Doch genau dieses Umdenken stößt auf Widerstand, da es die Fähigkeit zur Akzeptanz des Abstrakten erfordert – einer Dimension der Welt, vor der der Mensch jedoch beharrlich zu fliehen versucht. Wodurch ebendiese Abkehr bedingt ist, wird in diesem Beitrag thematisiert.

Fragment ≠ Ganzheit

Fotografie ist das Medium unserer Zeit; eingebettet in Social-Media-Plattformen, die vom Versprechen einer kollektiven Teilhabe und dem Wunsch der globalen Vernetzung bestimmt sind, ist das Foto das vorrangige Ausdrucksmittel, um sich selbst und anderen zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Getreu dem Leitgedanken – Ich knipse, also bin ich – wird dabei eine von Likes und Followern konstruierte Welterfahrung versprochen, die heute Millionen von Menschen als Teil ihres Alltags begreifen. Da erscheint es merkwürdig zu behaupten, wir hätten vergessen, wie wir einen Zugang zur Welt gewinnen – gerade in einer Zeit, in der mehr Bilder gemacht, geteilt, diskutiert und konsumiert werden als je zuvor. Doch wie sieht der allumfassende Zugang zur Welt aus, den uns die von Fotos durchzogenen Untiefen der Social-Media-Landschaften vermitteln?

Fotografien sind zeitchronistische Fragmente, die von der Illusion gespeist werden, Vergangenes greifbar zu machen. Sie lassen uns daran glauben, den flüchtigen Moment einzufangen und wiedererleben zu können. Dabei offerieren sie eine Bildwirklichkeit, die es in der Realität in dieser Form nie gegeben hat. Zwar verweist ein Großteil der Fotografie auf einen realen Referenzpunkt, wodurch dem Foto eine ausweisende Eigenschaft zuzusprechen ist. Ihr analytischer Wert entsteht jedoch erst durch das bewusste Erkennen ihrer Grenzen. Mit Hilfe der Fotografie ein tieferes Verständnis für die Komplexität der Welt zu erlangen, heißt somit, ebendiese grundsätzlichen Beschränkungen in der Betrachtung umfassend zu reflektieren. Erst, wenn das Foto als konstruiertes Fragment eines umfassenderen und darauf verweisenden Weltzusammenhangs verstanden wird, kann seine Abbildhaftigkeit genauer hinterfragt und eingeordnet werden. Angesichts der heute stattfinden Nutzung, die das fotografische Bild auf den gängigen Social-Media-Plattformen erfährt, kann von einem ebenso stattfindenden Reflexionsprozess aber nicht zu sprechen sein.

Identitätsversprechender Konformismus

Ein Bild gleicht dem anderen. Blicken wir auf eine Social-Media-Plattform wie Instagram, finden wir uns in einer sehnsuchtsvollen Stereotypie wieder, in der das Foto dem Drang der kollektiven Nachahmung unterstellt ist. Einzelne Individuen – gegenwärtig als Influencer bezeichnet – vermitteln in unzähligen Bildern die Vorstellung des perfekten Lebens. Eingerahmt von wunderschönen Sandstränden, wird der an antike Skulpturen erinnernde Körper in Pose gebracht, nur um wenige Sekunden später seinen Followern einen tiefgreifenden Ratschlag mit auf den Weg zu geben: »Werden die Influencer gefragt, was ihr Content bezwecken soll, kehren in ihren Selbstbeschreibungen stets dieselben Buzzwords wieder: Sie wollen ihre Community »inspirieren« und sie dazu anregen, »individuell« und »kreativ« zu sein.«1

Die versprochene Individualität gleicht jedoch einem Konformismus, handelt es sich schlicht um die Realisierung eines privilegierten und auf Kosten anderer betriebenen Konsumgedankens. Die Folge ist ein Bildgewitter der Alternativlosigkeit: Die Konsument:innen müssen, wenn sie zeigen wollen, dass sie auch dazugehören, keine neue Sicht in ihren Bildern produzieren, sondern nur das bereits Vorhandene reproduzieren. Unterstützt von Algorithmen, die Faktoren von Serialität und Wiederholung aus kommerziellen Gründen begünstigen, ist ein diktierter und allein auf Mittel der Imitation ausgerichteter Formalismus das letztendliche Resultat. Das hundertste Foto eines Sonnenuntergangs steht dabei nicht für eine emanzipatorische Form der Weltwahrnehmung, ist es doch das Ergebnis einer etablierten Infrastruktur, die die Welt allein als stillschweigende Projektionsfläche menschlicher Interessen begreift.2 Die zentrale Erkenntnis, dass es mehr gibt, als der Mensch denken oder mit Fotografie abbilden kann, wird von dieser Struktur bewusst ausgeklammert, um ihre eigenen Interessen aufrechtzuerhalten. In diesem Kontext findet sich seit mehreren Jahren auch die Kunst wieder:

»Von der Kunst wird mittlerweile genauso wie von der Mode, der Popkultur oder Konsumwelt erwartet, dass sie Angebote macht, die dazu geeignet sind, jeweils eigene Erfahrungen und Einstellungen bestätigt zu bekommen. Statt sich von Fremden oder zumindest Befremdendem herausfordern zu lassen, achtet man, […] vermehrt auf Verbindendes und auf Ähnlichkeiten; man sucht Solidarisierung, Teilhabe und Communities, wünscht sich Bestärkung und Unterstützung.«3

In Zeiten, in denen es marginalisierten Gruppen durch Social-Media und andere digitalen Vernetzungsmöglichkeiten erstmals gelingt, umfassende Sichtbarkeit sowie Aufmerksamkeit für ihre Interessen zu erhalten, erscheint es zunächst naheliegend, Kunst als ein Vehikel zu begreifen, dass zur Unterstützung der vorgebrachten Bestrebungen von Partizipation und kollektiver Anteilnahme einzusetzen ist. Das daraus sich ergebende Problem ist jedoch, dass Kunst in einer ebensolchen Betrachtungsweise ihrer Ambiguität entledigt wird: Alles, was nicht unmittelbar die eigenen Erwartungen bestätigt, agiert demnach gegen das partizipative Angebot der von nun an nutzungsorientiert ausgerichteten Kunst. Demzufolge entspricht jegliche Form der künstlerischen Ausübung einem formalistischen Prozess, der zufällige und nicht planbare Aspekte rigoros ausblendet. Ebendiese Faktoren sind es jedoch, die aufzeigen, dass Kunst das Zufällige, Chaotische oder auch Fremde benötigt, will sie einen Bezug zum Leben und einer geschärften Weltwahrnehmung ausbilden:

»Zufälligkeit wird nicht als etwas mit Ordnung Inkommensurables betrachtet, sondern als Sonderfall eines allgemeineren Begriffs von Ordnung, in diesem Fall von Ordnungen unendlichen Grades. Dies mag einem als ein sonderbarer Schritt erscheinen, da Zufälligkeit in der Regel für gleichbedeutend mit völliger Unordnung (der Abwesenheit jeglicher Ordnung) gehalten wird. […] Aber hier wird die These aufgestellt, daß alles, was geschieht, in irgendeiner Ordnung stattfinden muß, so daß die Vorstellung eines »völligen Fehlens von Ordnung« keinen wirklichen Sinn hat.«4

Ordnung im Zufall

Betrachten wir die Tuschezeichnungen von Asef-Burckhardt unter Hinzunahme des Begriffs der Ordnung, den der US-amerikanische Physiker David Bohm (1917–1992) für das Zufällige formulierte, so verdeutlicht sich die Möglichkeit, die Fehlstellung einer Rezeption offenzulegen, die das Zufällige von Grund auf negiert. Nachdem die Fundstücke als Trägermaterial für die Tusche genutzt wurden und auf den Zeichenblättern unterschiedliche Setzungsformen hinterließen, sind sie anschließend selbst Teil des Bildes geworden. Dadurch entstand eine im Werk verankerte Prozesshaftigkeit: Der in Tusche getränkte Gegenstand fungiert hierbei als Vermittler einer Weltwahrnehmung, die sich gegen die Idee eines statischen Weltbildes richtet. Die Zeichnungen präsentieren keine willkürlichen Bildinhalte, sondern eine zur Sichtbarkeit gebrachte Ordnung, die auf einen ausgeprägten künstlerischen Entdeckungswillen zurückzuführen ist, wie ihn die Künstlerin Almut Linde (*1965) beschreibt: »Die neu gemachte Entdeckung ist, dass der künstlerische Prozess darin besteht, durch Definition eines neuen Standpunktes eine Neuordnung zu schaffen.«5

Ink and Dead Organisms on Paper, Asef–Burckhardt: SHELTER–BONE © 2023


Diktiert ein Großteil der tagtäglich einzusehenden Fotos wiederkehrend, wie die Realität auszusehen hat, stellen sich die Zeichnungen von Asef-Burckhardt gegen ebendiese Doktrin. Ihre Zeichnungen sind hoffungsvolle Gegenentwürfe zu einer von leistungsoptimierten Ansichten durchzogenen tagtäglichen Bilderflut. Sie entstanden dort, wo der Mensch an die Grenzen seiner Wahrnehmung der Natur stößt. Die Kunst der Vergangenheit führte immer wieder vor Augen, dass ihr Blick auf die Natur eher einer bühnenhaften Bebilderung glich – einer Darstellung, die die unsichtbaren Kräfte der Natur zur denkbaren Konstanten werden ließ. Eine künstlerische Einbindung und letztendliche Visualisierung der unaufhörlich voranschreitenden Dynamik der Realität gelang ihr jedoch nur in den wenigsten Fällen. Die Zeichnungen von Asef-Burckhardt stellen Momente der menschlichen Anteilnahme dar, in denen die Erkenntnis überwiegt, dass jedem noch so unbedeutsamen Ding etwas innewohnt, das es mit dem Ganzen der Welt in Verbindung setzt. Der künstlerische Eingriff überführt diese Verbindung zu einer einmaligen Ordnung, die die Welt nicht so abbildet, wie der Mensch sie sehen will. Die Zeichnungen verdeutlichen vielmehr, dass die Welt ein von Abstraktheit durchzogenes Ganzes ist, das sich dem Menschen nur dann umfassender erschließt, wenn er in einer Kunst, die sich diesen Gegebenheiten bewusst ist, ein Mittel erkennt, um eine ganzheitliche Akzeptanz für alles zu entwickeln, was ihm zunächst fremd erschien: »Wir können die Welt immer nur unvollständig sehen; sie mit Willen unvollständig zu sehen macht den künstlerischen Aspekt.«6

  1. Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt: Influencer. Die Ideologie der Werbekörper, Berlin 2021, S. 61.
  2. Vgl. Almut Linde: Radical Beauty. Form und Erkenntnis. Eine Künstlertheorie, Hamburg 2018, S. 31
  3. Wolfgang Ullrich: Identität und Empowerment. Kunst für den Ernst des Lebens, Berlin 2024, S. 7.
  4. David Bohm/Francis David Peat: Das neue Weltbild. Naturwissenschaft, Ordnung und Kreativität, München 1990, S. 138/139.
  5. Linde 2018, S. 31.
  6. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit, Zürich 2009, S. 38.

2 Replies to “Ein Tag am Strand”

Leave a comment