รœbersicht: Mario Asef arbeitet bei mehreren kรผnstlerischen Projekten mit renommierten Wissenschaftlern zusammen. Im Zentrum des Gesprรคchs stehen die von ihm entwickelten Acousmatic Lectures. Das Publikum kann die vortragenden Wissenschaftler hier nicht sehen, da diese hinter einem Vorhang verborgen bleiben. Darรผber hinaus kommen Asefs รœberlegungen zur Wissenschaft, zur Kunst und zum Verhรคltnis beider zur Sprache.

Mario Asef, Sie sind fรผr w/k interessant, da Sie bei mehreren kรผnstlerischen Projekten mit Wissenschaftlern zusammengearbeitet haben. Auf der anderen Seite sind Sie weder ein Grenzgรคnger zwischen Kunst und Wissenschaft, der auch eigenstรคndig wissenschaftlich arbeitet, noch ein wissenschaftsbezogener, auf wissenschaftliche Theorien/Methoden/Ergebnisse zurรผckgreifender Kรผnstler.
Das stimmt. Ich denke nicht in solchen Kategorien.

Welche Kooperationsprojekte hat es bis heute gegeben?
Bislang gibt es vier Projekte dieser Art zu verzeichnen; das zweite besteht wiederum aus neun Teilen: Crossfade (2012) in: Junge Kunst e.V. Wolfsburg. Acousmatic Lectures (neunmal in den Jahren 2014โ€“2018) in: Errant Sound (Berlin). Konsum der Landschaft. Aquamediale 11 (2015) Kunst im รถffentlichen Raum Spreewald. Kemmuna Nation. Fragmenta Malta (2018) Kunst im รถffentlichen Raum auf Malta. Akusmatik als Labor (2019) Kunstraum der Leuphana Universitรคt Lรผneburg.

Mit welchen Wissenschaftlern haben Sie bei diesen Projekten zusammengearbeitet?
Insgesamt mit 18. Ich fรผhre an dieser Stelle nur einige an. Kooperiert habe ich z.B. mit Prof. Dr. Markus Gabriel (Lehrstuhl fรผr Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universitรคt Bonn), Prof. Dr. Hans-Jรถrg Rheinberger (ehem. Direktor des Max Planck-Instituts in Berlin), Prof. Dr. Dr. Klaus Jรผrgen Hรผnger (Direktor des Fachgebiets Baustoffe und Bauchemie der Brandenburgischen Technischen Universitรคt Cottbus), Dr. Martin Galea de Giovanni (Environmental Management and Planning, University of Malta). Da jedes Projekt einen unterschiedlichen Schwerpunkt hat, brauche ich fรผr die Entwicklung und Realisierung jeweils verschiedene fachliche Unterstรผtzung. Meine Auswahl hat in allen Fรคllen mit meinen persรถnlichen Interessengebieten zu tun: Philosophie, Kunst, Physik, Klimawandel und ร–kologie.

Mit welchem Kooperationsprojekt sollen wir uns ausfรผhrlicher beschรคftigen?
Mit der Reihe Acousmatic Lectures. Die ist momentan besonders aktuell.

In allen Fรคllen dieser Reihe haben Sie mit einem besonderen Setting, mit einer besonderen Anordnung gearbeitet.
Das trifft zu. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichteten vor einem kleinen Publikum von 20โ€“40 Personen รผber ihre aktuellen Forschungen. Die Anwesenden konnten sie nicht sehen, denn sie saรŸen hinter einem Vorhang.

Mario Asef: Acousmatic Lectures (2014). Zeichnung: Mario Asef.

Wie sind Sie auf diese Anordnung gekommen?
Das Format hat seinen Ursprung in der Akusmata des Pythagoras: Die neuen Schรผler mussten vor einem Vorhang sitzen, der die Physiognomie des Meisters verhรผllte. Zum Setting gehรถrt auch eine besondere Anordnung der Sitzplรคtze. Es ist mir wichtig, das klassische Setting einer Bรผhne zu vermeiden; deswegen wird der Vorhang wie ein Objekt im Raum platziert, und die Sitzplรคtze sind mehr oder weniger willkรผrlich im Raum verstreut, nicht frontal vor dem Vorhang im Reihen geordnet.

Kann man sagen, dass in einem von Ihnen entwickelten kรผnstlerischen Rahmen ein wissenschaftlicher Vortrag stattfindet, der im Prinzip auch in einer universitรคren Vorlesung, auf einer wissenschaftlichen Tagung usw. gehalten werden kรถnnte?
Ganz genau.

Wie lรคuft das Ganze ab?
Es gibt keine Prรคsentation oder Moderation der Acousmatic Lectures. Der Gastgeber begrรผรŸt das Publikum weder vor noch nach dem Vortrag. Die Lecture startet in dem Moment, wenn der Vortragende zu reden beginnt, und endet, wenn dieser mit der Rede aufhรถrt. Niemand auรŸer dem Veranstalter und dem Vortragenden weiรŸ, zu welchem Zeitpunkt der Vortrag beginnt und wie lange er dauern wird. Am Ende gibt es auch kein Schlusswort. Auch ein Applaus ist nicht vorgesehen โ€“ aber de facto applaudieren die Menschen in vielen Fรคllen, weil sie das fรผr nรถtig halten bzw. daran gewรถhnt sind. Die Stille nach dem Vortrag verschwindet langsam, sobald das Publikum zu sprechen beginnt und sich damit die Situation schrittweise normalisiert. Der Sprecher hat frรผhestens 15 Minuten nach Beendigung seines Vortrags die Mรถglichkeit, dem Publikum zu begegnen. Der Vorhang wird aber niemals durchquert oder berรผhrt. Es gibt einen getrennten Weg, wodurch der Vortragende zum Publikum gelangt.

Wรคhlen Sie die Wissenschaftler allein aus und laden sie diese dann ein? Wenn ja, nach welchen Gesichtspunkten gehen Sie dabei vor?
Ich wรคhle die Wissenschaftler allein aus. Ich lade Personen ein, mit deren Forschungen ich vertraut bin. Das ist fรผr mich auch eine Mรถglichkeit, die Acousmatic Lectures thematisch mit anderen kรผnstlerischen Projekten zu verknรผpfen, in denen es um Fragen der kรผnstlerischen Produktion und des Experiments geht. Andere wissenschaftliche Themen, die mich interessieren, sind die Konstruktion des Naturbegriffs und der Begriff der Realitรคt.

Welche Mรถglichkeiten werden durch diese besondere Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft erรถffnet?
Die Theoretiker*innen halten einen ganz normalen Vortrag, der aber durch das Setting โ€“ das heiรŸt, durch den im Raum installierten Vorhang und die Disposition der Sitzplรคtze โ€“ zur Performance Lecture wird. Das Publikum ist auf das Zuhรถren fokussiert โ€“ das sonst bei einem Vortrag mรถgliche Sehen des Vortragenden ist unterbunden. Das Setting fordert sowohl vom Sprecher als auch vom Publikum eine Reihe von Entscheidungen, die in normalen Vortrรคgen schon gefallen sind. Es ist im Prinzip nicht wichtig, wo man hinschaut und trotzdem: Was wir sehen, beeinflusst das, was wir hรถren.

Was erwarten Sie, was das Publikum bezogen auf das Hรถren tun wird?
Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich berichten, dass man in der Regel am Anfang damit beschรคftigt ist, die Physiognomie der Sprechenden und die Charakteristika ihrer Persรถnlichkeiten aus den Qualitรคten der Stimmen zu erschlieรŸen. Im zweiten Moment fokussiert man sich auf den Inhalt des Vortrags, wobei man immer wieder von kleinen Ereignissen im Raum unterbrochen wird. AuรŸerdem achtet man auf den Raum und dessen Architektur sowie dessen akustische Merkmale. Im besten Fall vergisst man die Person hinter dem Vorhang, und dann wirkt der Vorhang als Membran im Raum.

Haben Sie nach einer Acousmatic Lecture auch die tatsรคchlichen Reaktionen des Publikums herauszufinden versucht?
Nach dem Vortrag kommt man in der Regel zusammen und tauscht sich รผber die Erfahrungen aus. รœbrigens, es ist auch fรผr die Vortragenden eine auรŸergewรถhnliche Erfahrung. Das Setting funktioniert in beide Richtungen.

Worum geht es Ihnen unabhรคngig von den tatsรคchlichen Reaktionen?
Mir geht es darum, wissenschaftliche Vortrรคge durch das beschriebene Setting in gewisser Hinsicht zu dekonstruieren und die Stimme im Bezug zum Raum zu beobachten. Im Laufe einer Acousmatic Lecture kรถnnen Zuhรถrende sich in einer Phase โ€“ wie bei einem Vortrag in รผblicher Umgebung โ€“ ganz auf den Inhalt konzentrieren, sich in einer anderen Phase aber mit dem Klanggeschehen befassen, das Gehรถrte als รคsthetisches Phรคnomen auffassen. Darรผber hinaus gibt es noch weitere Zugangsweisen zum Gehรถrten, die in einer Performance Lecture ebenfalls zugelassen, ja geradezu erwรผnscht sind. Je besser man selektiv zuhรถrt, desto reicher wird die Erfahrung.

Sind weitere Acousmatic Lectures oder damit zusammenhรคngende Aktivitรคten geplant?
Momentan entwickle ich in Kooperation mit Sven Spieker (von der University of California, USA) und Clemens Krรผmmel (Kunstraum der Leuphana Universitรคt Lรผneburg) das Konzept fรผr eine zweitรคgige Konferenz im November 2019 zum Thema Akusmatik als Labor โ€“ diesmal ohne Vorhang, wo wir, wie ich hoffe, dem Phรคnomen weiter auf den Grund gehen kรถnnen.

Welche Fragen sollen hier behandelt werden?
Absicht der Konferenz ist es, sich mit unterschiedlichen Aspekten der heutigen Relevanz der Akusmatik zu befassen. Zu diesem Zweck laden wir Experten ein, sich zu den entsprechenden Themenkreisen zu รคuรŸern. Darunter finden sich Kunstwissenschaftlerinnen, ein Molekularbiologe, Philosophen, Vertreter*innen der kรผnstlerischen Forschung (Artistic Research), Medienwissenschaftler*innen, Musikwissenschaftler*innen und eine Psychologin. Welche Bedeutung haben Stimmen ohne Kรถrper heute? Welche Rolle spielt die Akusmatik in der Performance Lecture? Welche Stellung hat die Akusmatik in der Musikgeschichte? Diese und damit verwandte Fragen wollen wir auf unserer Konferenz behandeln.

Mario Asef: Acousmatic Lecture Series (2017). Foto: Mario Asef.

Damit kรถnnen wir diesen Komplex abschlieรŸen. In der letzten Phase unseres heutigen Gesprรคchs, das wir 2020 fortsetzen werden, soll es um Ihre รœberlegungen zur Wissenschaft, zur Kunst und zum Verhรคltnis beider gehen. Beginnen wรผrde ich gern mit der von Ihnen zusammen mit einigen anderen vertretenen These: โ€žWissenschaftler arbeiten genauso kรผnstlerisch wie Kรผnstler wissenschaftlich arbeiten.โ€œ Einige w/k-Nutzer, die sich fรผr das GroรŸthema โ€žKunst und Wissenschaftโ€œ interessieren, werden mit Thesen dieser Art nicht vertraut sein. Um sie auf unserem Weg mitnehmen zu kรถnnen, sollten Sie auf nachvollziehbare Weise erlรคutern, was damit gemeint ist.
Dieser Satz hat einen Trick; man kann unterschiedliche Auffassungen davon haben. Das heiรŸt, wenn man sagt: โ€žWissenschaftler arbeiten genauso kรผnstlerisch wie Kรผnstler wissenschaftlich arbeitenโ€œ kann man noch hinzufรผgen: โ€žEben รผberhaupt nichtโ€œ. Oder man kann sagen: โ€žUnd zwar auf รคhnliche Weise.โ€œ Ich vertrete die zweite Auffassung. Fรผr mich erfordern sowohl die Wissenschaft als auch die Kunst ein starkes schรถpferisches Vermรถgen von denjenigen, die darin tรคtig sind, und dies bringt beide in eine รคhnliche Ausgangssituation. Gerade die Fragestellung und die Suche nach Antworten sind รคhnlich. Die Methoden und der Fokus sind dann aber sehr unterschiedlich.

Der zu erlรคuternde Satz wรผrde dann auf die Behauptung hinauslaufen, dass Wissenschaft und Kunst etwas gemeinsam ist โ€“ in beiden Bereichen finden schรถpferische, innovative Leistungen statt. Sowohl Wissenschaftler als auch Kรผnstler brauchen โ€žein starkes schรถpferisches Vermรถgenโ€œ.
Das meine ich und fรผhre das weiter aus. In einem Gesprรคch zwischen Heinz von Foerster und meinem damaligen Professor, dem Kรผnstler Ernst Caramelle fรผr die Wiener Zeitung Der Standard โ€“ nachzulesen in der Ausgabe von 27. Mai 1999 โ€“ fragt Caramelle: โ€ž[โ€ฆ] wir sind da, um uns zu unterhalten. Ja, รผber was eigentlich? Ich bin Kรผnstler, du bist Wissenschaftler.โ€œ Worauf von Foerster antwortet: โ€žNein, du bist Wissenschaftler, ich bin Kรผnstler.โ€œ In dem Gesprรคch heiรŸt es weiter: โ€žAlles kommt vom Sehen.โ€œ โ€žEs gibt Menschen, die Zusammen-Seher sind, und es gibt Menschen, die Trenn-Seher sind. Also das Problem der Taxonomie, d.h. wo unterscheide ich, ist eine unerhรถrt willkรผrliche Sache. Linnaeus beispielweise hat bei Tieren die ร„hnlichkeit untersucht, und Darwin hat sich diese Taxonomie angeschaut: Das kรถnnte doch eine Evolution sein. Das sieht doch so aus, als ob A aus B entstanden wรคre, und D aus C. Und plรถtzlich sieht man aus der Anordnung der Gestalten โ€“ also das ist doch ein kรผnstlerisches Sehen โ€“, wie ich die verbinde, und sehe, die gehรถren zusammen. Auf einmal entsteht eine Dynamik, wie eine Idee der Evolution, das hat noch nicht mit Evolution zu tun, das hat damit zu tun, daรŸ Darwin die ร„hnlichkeit und die Verwandtschaft der Formen gesehen, gefรผhlt hat.โ€œ

Da hake ich noch einmal ein. Verstehen Sie diese Sรคtze so, dass es bei Wissenschaftlern und dann wohl auch bei Kรผnstlern verschiedene Typen gibt, die hier als โ€ž Zusammen-Seherโ€œ und โ€žTrenn-Seherโ€œ bezeichnet werden? Daraus ergeben sich dann auf der einen Seite verschiedene Formen wissenschaftlicher Theorien und auf der anderen Seite verschiedene Formen von Kunst.
Heinz von Foerster spricht dort รผber Menschen im Allgemeinen. โ€žEs gibt Menschen, die Zusammen-Seher sind, und es gibt Menschen, die Trenn-Seher sind.โ€œ Da ist die Unterscheidung von Kรผnstlern und Wissenschaftlern noch nicht vorhanden. Ich denke, dass einige Kรผnstler wie auch einige Wissenschaftler zu dem Typ โ€žZusammen-Seherโ€œ gehรถren, aber beide auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Methoden und Zwecken. Sie beobachten Beziehungen zwischen Verhรคltnissen, die sie als Basis ihrer Forschungen nutzen; die โ€žTrenn-Seherโ€œ sind nicht in der Lage, solche Beziehungen zu erkennen. Im oben genannten Beispiel bezeichnet Linnaeus die ร„hnlichkeiten bei Tieren, er ist also ein โ€žZusammen-Seherโ€œ. Und spรคter sieht Darwin eine Reihenfolge in diesen ร„hnlichkeiten der Tiere und imaginiert die Entwicklung der Evolution. Er ist also ebenfalls ein โ€žZusammen-Seherโ€œ. Beide Beobachtungen, sowohl die Linnaeusโ€˜ als auch die Darwins, sind kรผnstlerischer Art, denn sie sind ein gestalterisches Sehen.

Obwohl die Ausgangspositionen der Kรผnstler und der Wissenschaftler sehr รคhnlich sind, trennen sich die Wege, je fortgeschrittener das Forschungsstadium ist. Aber auch in Kunst und Wissenschaft sind โ€žTrenn-Seherโ€œ tรคtig, sie haben allerdings noch nie mein Interesse erweckt.

Zu Ihrer These gehรถrt somit die Auffassung, dass zu den besonders kreativen, innovativen Wissenschaftlern immer auch eine kรผnstlerische Komponente gehรถrt โ€“ ein besonderes โ€žgestalterisches Sehenโ€œ.
Das stimmt.

Aus mehreren Texten, die ich gelesen habe, entnehme ich, dass Sie ein bestimmtes Verstรคndnis von Kunst haben, das auch normative Komponenten einschlieรŸt. Kรถnnen Sie das etwas erlรคutern?
Ich verlange von der Kunst eine gewisse Objektivitรคt. Das heiรŸt, Kunst soll am besten nicht nur etwas kommentieren, sondern aktiv Dinge und Konzepte von Dingen transformieren und dadurch sich in die Wirklichkeit einmischen. Die Geschichte der Kunst wรผrde dann im phรคnomenologischen Sinne von der Evolution der menschlichen Wahrnehmung erzรคhlen und letztlich von der Entwicklung des In-der-Welt-Seins des Menschen. Ich bringe die Legende von Zeuxis und Parrhasius[1] als Beispiel: Zwei Kรผnstler liefern sich einen Wettstreit darรผber, wer wirklichkeitsgetreuer malen kann. Das war bis zur Entdeckung der Fotografie die beste Beschreibung fรผr ein kรผnstlerisches Ideal. Heute sieht man diese visuellen Tricks im Internet; eine echte Katze versucht, eine Maus, die nur auf dem Bildschirm zu sehen ist, zu fangen. In den letzten 150 Jahren hat sich die Aufgabe der Kunst oft verschoben โ€“ weil unsere Wahrnehmung sich verรคndert hat, und zwar nicht nur wegen einer technologischen Entwicklung, sondern auch wegen der Fortschritte der Physik und der Biologie. Die Kunst ist ein Spiegel dieser Entwicklungen.

Geben Sie bitte ein paar Beispiele fรผr diejenige Kunst, welche Sie im Blick haben. Mir ist noch nicht ganz klar, weshalb diese Kunst fรผr ein Nachdenken รผber die allgemeine Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung und des Menschen รผberhaupt besonders relevant ist.
Ich gebe nur einige von vielen mรถglichen Beispielen: Ramon Llull (er gilt als Philosoph, Logiker, Grammatiker und Theologe des 13. Jahrhunderts; heute kรถnnte er auch als Kรผnstler gesehen werden), Leonardo da Vinci (er gilt als Kรผnstler, war aber auch Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur, Naturphilosoph und Koch zwischen dem 15. und dem 16. Jahrhundert), Theo van Doesburg (Maler, Schriftsteller, Architekt, Bildhauer, Typograf und Kunsttheoretiker; er gilt als Grรผnder der Konkreten Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts), Pierre Schaffer (er war Komponist und Schriftsteller; Begrรผnder der Konkreten Musik und der Akusmatischen Musik Mitte des 20. Jahrhunderts), Marcel Duchamp (gilt als Mitbegrรผnder der Konzeptkunst im 20. Jahrhundert).

Ich sehe hier auch eine Entwicklungslinie. Es ist zwar keine Evolutionskette, aber es kรถnnte ausreichen, um eine Evolution des Empfindens zu verfassen. Alle diese Kรผnstler transformieren auf eine ganz bestimmte Art und Weise die Beziehung Mensch-Wirklichkeit, indem sie das Medium der Beschreibung der Welt bewusst in der Beschreibung selbst implizieren. Das genau zu erklรคren, wรผrde hier zu weit fรผhren.

Das ist ein geeigneter Punkt, um uns abschlieรŸend Ihrem Verstรคndnis von Wissenschaft zuzuwenden.
Wissenschaft beschรคftigt sich mit der aktiven Erschaffung von Wissen. Dafรผr werden bestimmte Sprachen verwendet, die uns die Aneignung der Welt ermรถglichen. Die Mathematik ist eine diese Sprachen. Sie ist in der Lage, z.B. bei der Anwendung in der Physik konkrete Verhรคltnisse der Wirklichkeit zu vermitteln. Sie ist aber auch in der Lage, wie jede andere Sprache ihre eigene Realitรคt zu schaffen, z.B. die Idee des Unendlichen. Ich verstehe wissenschaftliche Beschreibungen, seien es naturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche oder mathematische โ€“ mit ihren objektiven Ansprรผchen โ€“ als eine weitere Erzรคhlungsform.

Die Wissenschaften liefern im Laufe der Zeit verschiedene Beschreibungen und โ€“ jeweils an bestimmte Theorien gebundene โ€“ Erklรคrungen der Welt. Welchen Stellenwert haben sie Ihrer Ansicht nach fรผr die Entwicklung des menschlichen In-der-Welt-Seins?
Ich denke, dass alle Versuche der Menschheit, einen neutralen und objektiven Blick auf die Welt zu werfen, in einem auf die Menschheit zurรผckgeworfenen Blick enden, dass die Welt also zum Spiegel wird. So gesehen ist dieser Anthropozentrismus die Konstante: die geschichtlich angeordneten Beschreibungen der Welt, die die Geschichte der Menschheit selbst erzรคhlen. Wissenschaftliche โ€žWahrheitenโ€œ sind sehr raffinierte Fantasien.

Ihre Sicht der Wissenschaft ist mir in einigen Punkten noch unklar. Vertreten Sie die These, dass die objektiven Ansprรผche, mit denen wissenschaftliche Theorien auftreten โ€“ dazu gehรถrt z.B. der Anspruch, bestimmte GesetzmรครŸigkeiten erkannt zu haben โ€“ , unberechtigt sind, und dass die wissenschaftlichen โ€žBeschreibungen der Weltโ€œ nur als Dokumente des jeweiligen Entwicklungsstadiums der โ€žGeschichte der Menschheitโ€œ zu deuten sind?
Nein, das ist auf keinen Fall unberechtigt! Es ist eine legitime Art und Weise, zu Kenntnissen zu gelangen. Es ist aber nicht der einzige Weg. Auch auf die Art der Erkenntnisse kommt es an. In der Geschichte der Wissenschaft sind viele Theorien entwickelt worden, die wir heute als Spinnereien betrachten. Die Idee von ร„ther als Medium fรผr die Ausbreitung von Licht im 17. Jahrhundert ist ein Beispiel dafรผr. Heute wird der Begriff โ€žร„therโ€œ entweder historisch oder poetisch verwendet. Vergleichbare Spinnereien finden wir in der Genforschung, der Weltraumphysik, der Quantenmechanik usw. โ€“ sie tauchen als groรŸe Entdeckungen auf und gehen schnell wieder unter, weil man sie als fehlerhaft erkennt und einstuft. Das gehรถrt meiner Meinung nach zur Forschungspraxis. Und das sagt auch etwas รผber die menschliche Evolution des Denkens aus.

Das ist ein guter Schlusspunkt fรผr unser erstes Gesprรคch. Die Fortsetzung ist fรผr 2020 geplant.

Mario Asef: Kemmuna Nation (2018). Foto: Mario Asef.

Beitragsbild รผber dem Text: Mario Asef: Acousmatic Lecture Series (2017). Foto: Mario Asef.


[1] โ€žZeuxis malte im Wettstreit mit Parrhasius so naturgetreue Trauben, dass Vรถgel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Daraufhin stellte Parrhasius seinem Rivalen ein Gemรคlde vor, auf dem ein leinener Vorhang zu sehen war. Als Zeuxis ungeduldig bat, diesen doch endlich beiseite zu schieben, um das sich vermeintlich dahinter befindliche Bild zu betrachten, hatte Parrhasius den Sieg sicher, da er es geschafft hatte, Zeuxis zu tรคuschen. Der Vorhang war nรคmlich gemalt.โ€œ (Plinius: Naturkunde. C. Plinii Secundi: Naturalis Historiae. Lateinisch โ€“ Deutsch. Herausgegeben und รผbersetzt von Roderich Kรถnig in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. Darmstadt 1973, Buch XXXV, Seite 64.)

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