Über ein Manuskript von Wladimir Krasnosowitsch
Endoskopie, Künstlerhaus Bregenz / Palais Turn & Taxis, Mario Asef © Bregenz 2008
Über die Wand als plastisches Bauelement innerhalb der Architekturgeschichte ließen sich vermutlich zahlose Entwicklungsgeschichten schreiben. In einem seiner Manuskripte aus den sechziger Jahren, das bis heute unveröffentlicht blieb, entschied sich der russische Architekt Wladimir Krasnosowitsch ganz bewusst, dies in Form einer Evolutionskette nach dem darwinistischen Modell zu beschreiben. Er klassifiziert die Wand innerhalb architekturgeschichtlicher Perioden. Sie stellt er chronologisch nebeneinander. In seinem Manuskript beschreibt Krasnosowitsch die Wand der Renaissance als eine Darstellung von unverrückbarer Realität. Im Barock funktioniert die Wand als Träger von fantastischen Realitäten, die mittels zweidimensionaler visueller Spielereien [1] eine Idee der Unendlichkeit in sich trägt. Krasnosowitschs beschrieb die Wand der Moderne als rein geometrische Form, welche von jeglicher Botschaft befreit ist, die sie in ihrem abstrakt-mathematischen Wesen nicht definierten. Sie ist, im Sinne Krasnosowitschs, ein modular- standardisiertes Bauelement eines ergonomisch multifunktionellen Raums. [2]
Am Anfang der Moderne hatten Wand, Säule und Balken eine doppelte Funktion. Zum einen dienten sie als strukturierendes Element für die Tragfähigkeit des Gebäudes. Zum anderen waren sie plastisches Element der qualitativen Raumschaffung (Konstruktivismus). Die ästhetische Reduktion der architektonischen Formensprache wurde in der Moderne soweit getrieben, bis die Wand von allen Zusatzkomponenten befreit war, welche den Benutzer vom Wesentlichen des Raumes ablenken könnten.
Das Drei-Achsen Schema (x-y-z) des euklidischen Raumes auf zweidimensionaler Ebene wird so 1:1 auf die Realität transferiert, um einen neuen Kontext für unseren Alltag zu materialisieren. [3]
Was als ein sehr praktisches bauliches System begann, eine schnell durchführbare Alternative, um breitere, offenere und hellere Räumlichkeiten zu schaffen (die drei Ideale des modernen Lebens), wurde später die am meisten anerkannte und universalisierte Form der Architektur. Sie durchzog alle Ebenen unseres Alltagslebens:
Das Büro / das Bett / das Telefon / das Wohnzimmer / der Teppich / der Spielplatz / der Fernseher / die Straße / die Tasse / der Schreibtisch / die Zeitung / die Schreibmaschine / der Hammer / … [4]
Im Laufe der Jahrzehnte verlor die Wand der Moderne mit ihrer plastisch-bildhauerischen Oberfläche und ihrer vermeintlich neutralen Signifikanz an Materialität. Die Wand erhält die Funktion eines Projektionsträgers für parallele oder virtuelle Realitäten. Sie wird so gewissermaßen zur Membran durch die sich ästhetische und ökonomische Werte im Osmose-Verfahren austauschen. Hat sich diese Funktion einmal etabliert, lässt sich im Sinne Krasnosowitsch als nächstes Evolutionsglied die Wand begreifen als eine Art polyphysischer Raumschöpfer. Dieser schöpft je nach Funktion die passende Materialität aus sich selbst. Dadurch werden multiästhetische und multifunktionale Räume kreierbar. Diese Entwicklung sehen wir heute etwa an den Glasfassaden der Büro- und Entertainmentviertel, an deren Medienfassaden und z.B. der sog. Dynamischen Architektur neuer Stadtzentren. Ein Name für diese neue Funktion, die der Wand zugedacht wird, liegt auf der Hand: die „Virtuelle Wand“.
Fig 1: .a) Vorgeschichtlich .b) Klassik – Renaissance .c) Gothik .d) Manierismus .e) Barock .f) Industrialismus .g) Moderne .h) Post-Modern .i) Virtuell
Mit dieser logischen Überlegung isoliert Krasnosowitsch die Wand vom Rest des architektonischen Raums. Er konstruiert die gesamte Architekturgeschichte neu und stellt die These auf, dass der große Triumph in der Architektur prinzipiell der Mathematik gehört. [5] Sie diene als Instrument der Raumschaffung und sei in der Lage ihre eigene Repräsentation des dreidimensionalen Raums wiederum im realen Raum zu realisieren, um diesen zu ersetzen.
Wir sind unter diesen Umständen fähig einen Raum zu kennen, bevor wir ihn in seinem Umfang erlebt haben. Denn wir kennen die Grammatik und die Logik, mit der er kreiert wurde. Wir sind gewissermaßen in die Lage versetzt durch Wände zu schauen, denn uns ist die mathematische Artikulation des Raums bekannt. [6]
Gleichwohl soll dies nicht heißen, dass keine Offenheit für neue räumliche Formen existiert. Ganz im Gegenteil:
Wenn unser Raum von logisch mathematischen Komponenten bestimmt wird, die für jede beliebige Form und Materie anwendbar sind, dann wäre es möglich, dass hinter jeder beliebigen Wand des Büros H-254 des Sekretariatshauses in Chandigarh, z.B. der Innenhof der Amerikanischen Botschaft in Athen oder sogar der unendliche mathematische Raum selbst befindet. [7]
Was sich hinter einer Wand verbirgt, wäre dann einerseits begreifbar aber genauso auch unerwartet und überraschend. Je nachdem, in welchem räumlich-logischen Bedeutungssystem wir die Wand implantieren. Das ist der Zustand, der der „Vorvirtuellen Wand“ Qualitäten verleiht, um eigene Fantasiekaskaden zu ersinnen.
Endoskopie, Skizze. Künstlerhaus Bregenz / Palais Turn & Taxis, Mario Asef © Bregenz 2008
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Wladimir Krasnosowitsch wurde 1890 in einer Arbeiterfamilie geboren und schloss 1902 eine kirchlich orientierte Schule ab. Seine Karriere begann er als Laufbursche in einer Handelsfirma. 1905 trat er mit Hilfe eines reichen Förderers in die Moskauer Fachschule für Malerei, Baukunst und Bildhauerei ein, wo er 1914 seinen Abschluss in Malerei und 1917 in Architektur machte.
Seine ersten Arbeiten waren noch von der klassizistischen Architektur der Jahrhundertwende geprägt. Einen Richtungswechsel bedeutete seine Lehrtätigkeit an der Moskauer Staatlichen Künstlerisch-Technischen Meisterschule (Wchutemas/Вхутемас).
Trotz eines hohen technischen Niveaus seiner Architektur hinterfragte Krasnosowitsch stets die Grundprämisse der Funktionalität. Seine Arbeiten erinnern häufig eher an abstrakte Skulpturen als an Zweckgebäude.
1934 bis 1937 unterrichtete Krasnosowitsch am Moskauer Architekturinstitut. In dieser Zeit erfuhr er bereits Kritik an seinen “Fantastereien” und konnte viele seiner Entwürfe nicht mehr realisieren. Zuletzt lebte er zurückgezogen. Krasnosowitsch starb 1974 einsam in seinem Moskauer Haus.
Endoskopie, Künstlerhaus Bregenz / Palais Turn & Taxis, Mario Asef © Bregenz 2008
[1] „ Die Wand – Eine Evolutionskette in der Architekturgeschichte “ – Wladimir Krasnosowitsch, Moskau ca. 1969
[2] A. a. O.
[3] A. a. O.
[4] A. a. O.
[5] A. a. O.
[6] A. a. O.
[7] A. a. O.

